Chefarzt Dr. Martin Kaiser hat in Hilbringen zu Verletzlichkeit und Widerstandskraft referiert

HILBRINGEN Ein Viertel aller Deutschen ist mindestens einmal im Leben mit einer behandlungsbedürftigen Krise konfrontiert. Viele Millionen leiden an der Volkskrankheit Depression. Mehr als 10.000 Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben, mehr als durch Drogen, Verkehrsunfälle und Unglücke zusammen. Doch wie wird man psychisch krank? Und kann man dem entgegenwirken? Diese Fragen hat Dr. Martin Kaiser, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des SHG Klinikums Merzig, kürzlich in der CEB Akademie in Hilbringen aufgeworfen. In Kooperation mit dem Hilfsverein TRIAS e.V. hat er einen Vortrag zum Thema „Verletzlichkeit, Widerstandskraft, Trauma – Wer wird psychisch krank?“ gehalten.

Eine psychische Erkrankung kann man nicht wie etwa ein Herzleiden genau lokalisieren und darstellen, sagte Dr. Kaiser. Dies sei ein Anstoß für viele Diskussionen, die nach wie vor in der Bevölkerung geführt werden. Statt an einer psychischen Erkrankung zu leiden, zeigten die Betroffenen persönliche Schwäche oder seien schlichtweg faul, lautet eine verbreitete Annahme. Eine Fehleinschätzung, so Dr. Kaiser. Er stellte das biopsychosoziale Krankheitsmodell vor, das Ende der 70er Jahre entwickelt wurde. Demnach entstehe eine psychische Erkrankung weder ausschließlich aufgrund biologischer, psychologischer oder sozialer Faktoren, sondern durch deren Zusammenspiel. Das Erbgut und die persönliche Biografie, das Lebensumfeld und kritische Lebensereignisse, all dies sei ausschlaggebend. Von Wahrscheinlichkeiten und Risikogruppen könne man nur allgemein sprechen, erklärte Dr. Kaiser. So wie wenn man wüsste, dass einer von 100 Menschen beim Überqueren der Straße angefahren werde, man aber nicht sagen könne, ob dies Nummer 1 oder Nummer 30 sei. „Psychische Erkrankungen können jeden treffen, jeden von uns, die wir hier sitzen.“

Menschen, die sensibel und verletzlich – im Fachjargon vulnerabel – sind, können in belastenden Situationen mit psychosomatischen Symptomen reagieren. „Die Sensibilität, die ich habe, bringe ich mit im Leben. Vulnerabilität als solche zu beeinflussen ist kaum möglich“, sagte Dr. Kaiser. Dennoch sei man im Laufe seines Lebens anders oder mehr verletzlich. „Jede Umbruchsituation im Leben kann die Sensibilität für psychische Erkrankungen erhöhen – jede Umbruchsituation.“

Dazu zählen neben persönlichen Lebenskrisen wie Scheidung, Kündigung oder der Tod eines nahestehenden Menschen auch traumatische Erlebnisse wie Gewaltverbrechen, Krieg und Naturkatastrophen Während einige Menschen solche Situationen relativ unbeschadet überstehen, werden andere aus der Bahn geworfen, erleben etwa eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Widerstandskraft könne man aber stärken. So können eine gute emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern, ein stabiles soziale Umfeld, die Verwurzelung im Freundeskreis oder das Vorgelebtbekommen von Werten die Widerstandsfähigkeit positiv beeinflussen. Zudem helfe es zu lernen, mit Situationen umzugehen, bei denen man bereits wisse, dass man sensibel darauf reagiere. Dies sei ein Prozess. „Widerstandsfähigkeit ist nichts, was man sich einmal aneignet und die dann ein Leben lang erhalten bleibt“, sagte Dr. Kaiser. Richtig leben zu lernen könne nicht ohne Anstrengung erreicht werden. „Aber wir können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, gesund zu bleiben.“

Nach seinem Vortrag nahm sich Dr. Kaiser noch mehr als eine Stunde Zeit, die Fragen der rund 30 Besucher zu beantworten. CEB-Geschäftsführer Gisbert Eisenbarth zeigte sich sehr erfreut über den Vortrag des Chefarztes. „Verletzlichkeit, aber auch die Widerstandskraft, die man dem entgegensetzen kann, sind ganz wichtige Themen.“ Auch TRIAS-Geschäftsführer Horst Bernardy dankte Dr. Kaiser dafür, dieses komplexe Thema so eindrucksvoll und einfach verständlich erklärt zu haben.

(Text: Ruth Hien)