Professor Wolfgang Werner hat bei der dritten ppp-Veranstaltung aus seinem Berufsleben erzählt

HILBRINGEN  „Es ist jedes Mal eine andere Geschichte. Aber jedes Mal gibt es die gleiche Notfallmedizin.“ Eine Notfallmedizin, die gegen Einsamkeit hilft? Darüber, über das Gefühl an sich und die Facetten der Einsamkeit hat Professor Wolfgang Werner kürzlich im Museum der Sammlung Dr. Zimmer in Hilbringen gesprochen. Der Abend war Teil der „ppp“-Reihe in Kooperation mit der CEB Akademie: Seelische Fragen (Psychologie) zum Zweck der Menschenliebe (Philanthropie) zusammen mit Musik (Philharmonie). Knapp 50 Besucher lauschten den Worten Werners ebenso wie den begleitenden Klängen von Kontrabass, Klavier und Klarinette, dargeboten von den beiden Berufsmusikern Frank Grandjean und Michael Christensen.

„What ist the german word for lonely?“, sei das erste gewesen, was ein junger Mann, der aus Afrika nach Deutschland kam, Wolfgang Werner gefragt habe. „Lonely“ bedeutet einsam, natürlich, aber der Psychiater war neugierig und schlug im Wörterbuch sämtliche Bedeutungen des Wortes nach. So heißt „lonely“ auch verlassen, öde – im Amerikanischen Englisch könne es sogar dafür stehen, weshalb man einsam sei und wonach man sich sehne. Gleichzeitig werde die Person genannt, die die Einsamkeit ausfüllt. Denn, so Werner, wir Lebewesen sind auf die Zugehörigkeit zu anderen angewiesen. Das Erleben der Einsamkeit sei schmerzhaft, gehe oft auf Trennung und Verlust zurück. „Wie wenn man das Gefühl der Sättigung kennen würde, man aber Hunger leiden müsste.“

Einsamkeit könne einem überall begegnen. Werner erinnerte sich an einen Besuch in einem Merziger Stadtteil. Eine graue Straße, graue Häuser und Menschen, die aneinander vorbeiliefen, als würden sie einander nicht kennen. In diesem Moment dachte Werner an das Bild „S.O.36“ von Rainer Fetting, das eine triste Szenerie in der Großstadt Berlin zeigt und zur Sammlung von Dr. Martin Zimmer gehört. Und er dachte daran, über Einsamkeit zu sprechen.

Einsamkeit, die ist dem Psychiater nicht nur auf der Straße begegnet. Werner erzählte an diesem Abend einige Erinnerungen aus seinem beruflichen Alltag. Ein Bild des Horrors in der heutigen Zeit seien für ihn Pflegeheime. Einer seiner Patienten wurde in ein Altenheim gebracht und als er Herrn Müller (Name geändert) tags drauf dort suchte, traf er zwei ältere Damen. „Wo der Herr Müller ist? Das können wir Ihnen nicht sagen, weil wir selbst nicht wissen, wo wir hingehören“, antworteten sie ihm. Bei einem seiner Besuche berichtete Herr Müller, dass er an jenem Morgen in seinem Rollstuhl in den Frühstücksraum gebracht wurde – als alle anderen schon weg waren. Nachdem ihn eine Stunde später immer noch niemand wie versprochen abgeholt hatte, versuchte er selbst zurück in sein Zimmer zu rollen, erzählte Werner. Bis er eine Lernschwester traf, die ihm half. Die Schwestern, die in beim Frühstück vergessen hatten, taten, als sei nichts passiert. „Jeder Mensch kann verstehen, dass er auf den Tod wartete“, sagte Werner. Bei einem anderen Besuch hatte er Bietzerberger Brennessellikör mitgebracht. Weil es keine Gläser gab, habe eine Schwester Plastikbecher gebracht, wie für Medikamente. Oder Urinproben. Noch bei der Beerdigung sagte Müllers Enkelin zu Werner, dass ihr Opa gerne von diesem Tag erzählte: „Das ist ein Besuch, wie ich mir ihn immer gewünscht habe.“

Eine andere Patientin, von elfenhafter Figur und mit silberfarbenem Haar, kam erstmals zu Wolfgang Werner, nachdem ihr Ehemann gestorben war. Bereits als Jugendliche habe sie sich vor einen Zug geworfen und überlebt. Sie habe geheiratet, Kinder bekommen, die gut durch Schule, Studium und in den Beruf kamen. Die erste schwere Depression durchlebte die Frau, als sie auf die 30 zuging, bis zu ihrem 50. Lebensjahr folgten zwei weitere. Nach dem Tod ihres Mannes brachte ihr Sohn sie zu Werner, sie erholte sich und zeigte sich dankbar für dessen Hilfe. Zu Weihnachten schickte sie ihm Wein aus ihrer Heimat. Bei einem späteren Treffen war sie kraftlos, eine alte Frau, sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Nach jeder Sendung habe sie auf seine Antwort gewartet, erzählte sie, habe jeden Morgen geschaut, ob ein Brief von Werner gekommen sei. Und jedes Mal, wenn er kam, habe sie sich begleitet gefühlt. „Ich habe sie nicht mehr lange begleitet. Ihr Herz setzte aus.“

Die Erinnerung an die dritte Patientin, von dem Werner erzählte, tue ihm besonders weh. Doch ihm sei wichtig, immer wieder mitzuteilen, wie schnell wir uns schuldig fühlen können, ohne schuldig zu sein. Werner erzählte von der Frau, deren Kinder schon aus dem Haus waren. Als auch ihr Mann starb, brach in ihrem Leben die Unterstützung zusammen und sie fühlte sich in ihrer Depression noch mehr alleine. Werner besuchte sie jeden Tag eine Stunde lang. Beim letzten Mal bat sie ihn, länger zu bleiben. Nie zuvor hatte sie darum gebeten. Doch Werner musste gehen, Termine einhalten. Sie habe zwei Worte gesagt, die er bis heute nicht vergessen könne: „Helfer, kalter“. Und starb. Werner sagte den Besuchern, dass wir es im Leben und Sterben nicht verhindern könnten, dass sich ein Mensch verlassen und einsam fühlt. Aber wir können uns Mühe geben.

Werner zitierte die hoffnungsvolle Rede, die die 22-jährige Marina Keegan vor ihrer Abschlussklasse an der Elite-Universität Yale hielt, kurz bevor sie bei einem Autounfall ums Leben kam: „Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit. Aber wenn es eins gäbe, würde ich sagen, genau dafür müssen wir leben.“ Ist das die vorher angesprochene Notfallmedizin? Werner zeigte sich überzeugt, dass wir gegenseitig für das Gegenteil von Einsamkeit verantwortlich sind. Als Metapher für das Leben nannte er einen Teppich. Anfang, Mitte und Ende sind von gleicher Bedeutung, jeder Teil ist von Goldfäden durchzogen. „Ich nenne diese Goldfäden das Gegenteil von Einsamkeit.“

Die nächste ppp-Veranstaltung zum Thema „Träume“ ist für den 21. Februar 2019, 19.30 Uhr, im Museum der Sammlung Zimmer in Hilbringen geplant. Kooperationspartner der Reihe ist die CEB Akademie.

(Text: Ruth Hien)